Marxistische vs. Künstliche Intelligenz „Digitaler Kapitalismus“

Politik

„Digitalisierung“ ist das Schlagwort der Stunde, gerade auch unter Lockdown-Bedingungen, wo die allgemeine soziale Distanzierung mit dem Ideal ständiger Netz-Konnektivität verschönert wird.

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Gelenkarmroboter mit Hub-Dreh-Modul BNS-V. Foto: Neerol34 (CC BY-SA 4.0 cropped)

11. März 2021
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„Kein Tag vergeht mehr, ohne dass ein Artikel zu den ‚Chancen und Risiken' der Digitalisierung erscheint“, schrieb jüngst der Sozialwissenschaftler Peter Schadt, der Ende 2020 eine umfangreiche Studie zur Digitalisierung in der deutschen Autoindustrie vorgelegt hat (siehe dazu die Auszüge Teil I und Teil II im Untergrund-Blättle). Schadts Analyse zielt darauf, dass hinter der Berufung auf einen angeblich weltweit wirksamen Sachzwang eine mehrfache Kampfansage steckt: adressiert an ökonomische Konkurrenten und politische Rivalen sowie an eine Arbeiterklasse, die auf diese Weise erfahren könnte, dass sie als globale Manövriermasse existiert.

Alles so schön digital hier

In diesem Sinne, also als Angriff auf die Verschleierung von Interessengegensätzen und politökonomischen Triebkräften, will auch die von dem Philosophen Wolfgang F. Haug gegründete Zeitschrift „Das Argument“ dem modernen Alltagsmythos „Digitalisierung“ zu Leibe rücken. Die Redaktion hat zum Jahresanfang 2021 die Nr. 335 „Online-Kapitalismus – Zur Umwälzung von Produktions- und Lebensweise“ herausgebracht, knüpft damit an frühere Analysen (Industrie 4.0 als „Explosion der globalen Kapitalverwertung“) an, greift aber gleichzeitig weiter aus.

Haug sieht in den Folgen der industriepolitisch gesteuerten „Disruption“ Momente eines „anthropologischen Einschnitts“, der den Übergang zu einer „virtuellen Vergesellschaftung“ markiere (17). Konkretisiert wird dies ja heutzutage mit den neuen Notwendigkeiten von Home-Office oder Digitalem Lernen – überhöht mit allen möglichen Diskursen und Visionen von der anbrechenden Ära der Künstlichen Intelligenz bis zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft, in der man nur noch virtuell interagiert.

Um die kritische Stossrichtung deutlich zu machen, hat die Redaktion den ursprünglich geplanten Titelbegriff des „digitalen Kapitalismus“ durch „Online-Kapitalismus“ ersetzt, womit wohl eine Distanzierung von der gängigen Schlagwortproduktion erreicht werden soll. Der sozialdemokratische Vor- und Schnelldenker Peter Glotz wartete ja schon Ende der 90er Jahre mit seiner Diagnose „Digitaler Kapitalismus“ auf, um den landläufigen Globalisierungsdiskurs mit einem neuen Modewort zu überbieten. Ihm sind jüngst die Sozialwissenschaftler Maik Fielitz und Holger Marcks, in ähnlicher Weise effekthaschend, mit ihrem Buch „Digitaler Faschismus“ (2020) gefolgt – eine Diagnose, die von der FAZ (31.1.21) gleich begeistert aufgegriffen wurde, da so extremistische Tendenzen als Folge einer unbeaufsichtigten Parallelwelt der sozialen Medien erscheinen und nach weiteren staatlichen Massnahmen zur Abschliessung der „Offenen Gesellschaft“ verlangen.

Dagegen will das „Argument“ die politökonomischen Zusammenhänge ins Visier nehmen und „so dazu beitragen, Kriterien für Problemdiagnosen und Reformkonzepte zu schärfen im Blick auf sozial-ökologischen Gestaltungsbedarf.“ (18) Das erinnert etwas ans Kamingespräch der Evangelischen Akademien über Fluch und Segen der Technik, so etwa wenn Haug an seine frühere Analyse anknüpfend schreibt, das Internet sei „zugleich Bildungsmedium einer zukünftigen Menschheit, wie es unmittelbar das Medium ihrer neoliberal-wildkapitalistischen Zerstörung ist“ (18).

Dabei wendet sich der Autor jedoch besonders gegen die Illusion, die analytische Aufmerksamkeit habe sich auf die mikroelektronisch aufgetunten Produktivkräfte zu konzentrieren, um sie dann ideell neuen, humanen Zwecken zuzuführen oder ihnen ein eigenes Fortschrittspotenzial abzulauschen. „Die Mittel herrschen aber nicht“, hält Haug in seinem Hauptbeitrag fest (28), der sich ausführlich mit der Veröffentlichung „Digitaler Kapitalismus“ (2019) des Soziologen Philipp Staab auseinandersetzt.

Das müsste klar sein: Computerisierung bedeutet zunächst eine Veränderung der Arbeitsmittel. Daraus folgt aber, so Haugs Votum, dass vor allem die ihnen aufgeherrschte ökonomische Formbestimmung in den Blick zu nehmen ist. Das Potenzial der Produktivkräfte ist nicht offen für unterschiedlichste Gestaltung, „ihre Macht reicht bis zu dem Punkt, dass sie Möglichkeiten bedingen“ (28).

Ihre Wirklichkeit ist durch ihre Rolle im Produktionsverhältnis bestimmt, politökonomisch durch die Methoden der relativen Mehrwertproduktion, die Marx im ersten Band des „Kapital“ untersucht hat. Diese Methoden entscheiden darüber, welche Möglichkeiten ökonomisch verwirklicht werden. „Binnenökonomisch vereinfacht gesprochen, ist es der Profitmechanismus“ (54). Auf diesen Punkt verweist Haug mit Nachdruck, hier sieht er das Hauptdefizit von Staabs Analyse, die mit ihren Technikphantasien u.Ä. zusätzliche Verwirrung in die notwendige Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Entwicklungsgang bringt.

Haugs umfangreicher Text ist im Rahmen der Vorarbeiten zum Abschluss seiner Trilogie über den Hightech-Kapitalismus entstanden (Teil I: 2002, Teil II: 2012). Er geht auf viele weitere Fragen ein, etwa auf die Umwälzungen in der Zirkulationssphäre oder auf den wirtschaftspolitischen Aufbruch der grossen Kapitalstandorte (Schlagwort: Industrie 4.0). Die internationale Konkurrenz und deren Überlagerung mit den aktuellen „Krisenfolgen der darauf nicht eingestellten herkömmlichen politischen Sozial-, National- und Weltordnungssysteme und den daraus sich speisenden Neofaschismen und Kriegsgefahren“ schicken sich demnach an, „auf absehbare Zeit die Tagesordnung zu bestimmen und die global-kooperative Hinwendung zu einer sozial-ökologischen Politik zu blockieren“. (54)

So ist auch abschliessend klargestellt, was es mit dem etwas optimistisch annoncierten Gestaltungsbedarf auf sich hat: Er ist gedeckt, binnenökonomisch nämlich von der Profitlogik des Systems. Dessen Um- oder Neugestaltung zu thematisieren, wäre freilich ein anderes Kapitel als die Diskussion über Verwendungsweisen digitaler Technologie.

Marxistische vs. Künstliche Intelligenz

Das Argument-Heft hat natürlich viel zu bieten. Der Dichter Volker Braun beklagt auf den ersten Seiten, „dass ein beinahe heilloser Stillstand herrscht,/und sich wies scheint/Nur die Gewinn- und Verlustmaschine dreht/Ohne erkennbaren öffentlich-kulturellen Sinn?“ (6), und erinnert dabei auch an die erste Corona-Pandemie zur Zeit des Peleponnesischen Krieges (Perikles als Vorläufer von Boris Johnson?).

Den Abschluss bildet fast 400 Seiten später eine Rezension von Timm Kunstreich, der von dem Kunststück berichtet, wie man nach 50-jähriger Recherche einen biographischen Bericht über einen alten Wandervogel und dessen Suche nach der blauen Blume so anlegen kann, dass Einzelnes plausibel wird, „vieles aber auch offen bleibt“ – wobei immerhin feststeht, dass der Mann innerhalb weniger Jahre „vom überzeugten Kommunisten zum ebenso überzeugten Nationalsozialisten“ mutierte (395)!

Im Rahmen dieses kunstvollen, auf kulturellen Sinn bedachten Arrangements gibt es dann viel Informatives, aber auch Kontroverses oder Sinnverwirrendes zu lesen, schwerpunktmässig zum Thema Online-Kapitalismus, nebenher dann zur „digitalen Hörigkeit“ unter Lockdown-Bedingungen oder über „Roboter als Lehrer“, dazu allerlei Phantastisches, etwa über eine post-apokalyptische Dystopie oder die „Un/Fähigkeit der Science Fiction, die Probleme von Fortschritt und Subjekt zu lösen“ und schliesslich, wie in jedem Heft, eine umfangreiche Bücherschau zu verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen (zu Autoren wie Klaus Ahlheim, Katja Kipping oder Shoshana Zuboff, vor allem aber zur Philosophie, wo das Heft auch überraschender Weise den alten rheinischen Unruhestifter Karl Marx einordnet).

Der Anfang 2021 vorgelegte, in Kooperation mit dem Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) erstellte Band schliesst als erweitertes Doppelheft der Zeitschrift den Jahrgang 2020 ab und erscheint zugleich in der Reihe „Das Argument-Buch“. Wie das Editorial erläutert, soll damit 2021 ein neuer Start versucht werden – als Vierteljahresschrift, ergänzt um ein Online-Supplement, das auf aktuelle Entwicklungen reagiert. So will die Zeitschrift „für Philosophie und Sozialwissenschaften“, die mittlerweile seit 62 Jahren erscheint, ihren „Krisenmodus“ überwinden, also ihre drohende Marginalisierung in einem Wissenschaftsbetrieb, der mit Peer-Review-Verfahren u.Ä. auf akademischen Konformismus achtet.

An die akademische Debatte anschliessen bzw. dort Resonanz finden, will die Zeitschrift aber schon. So vermerken Andreas Boes und Tobias Kämpf vom ISF – etwas optimistisch gestimmt – im zweiten Hauptbeitrag des Heftes, dass mit der „neuen Welle der Digitalisierungsforschung der (kapitalismus-)kritische Anspruch der Sozialwissenschaften einen neuen Resonanzboden gewonnen hat“; nach Jahren postmoderner Beliebigkeit finde man nun „eine gut informierte und instruktive Auseinandersetzung mit den Gefahren einer zunehmenden digitalen Durchdringung der Gesellschaft“ (133). Doch es folgt gleich der Rückruf dieser Einschätzung, nicht zuletzt im Blick auf die vorausgegangene Kritik Haugs an der soziologischen Analyse von Staab.

Bei einem solchen soziologischen Befund gehe es nicht, das betonen die ISF-Autoren ebenfalls, um ökonomiekritische Analyse, sondern um Idealismen von der Freiheit des Marktes – während andere Diagnosen einen heraufziehenden digitalen Überwachungskapitalismus und als dessen Gegenbild die marktwirtschaftliche Idylle selbst gesteuerter, aufgeklärter Akteure beschwören. Letztlich gerät so in der Tat aus dem Blick, was die Grundlage der visionären High-Tech-Perspektive bildet: der Gegensatz von Kapital und Arbeit.

Johannes Schillo

Das Argument, Nr. 335, 2020: Online-Kapitalismus – Zur Umwälzung von Produktions- und Lebensweise. 400 Seiten, Verlag Das Argument, Hamburg, Online: argument.de